Statement

Kunst und Wirklichkeit

„Kunst ist kein Abbild der realen Welt. Eine ist, bei Gott, mehr als genug.“ (Virginia Woolf)

„Gibst du mir einen künstlerischen Kuss?“ Diese Frage stellte mir meine Mutter, als ich fünf war, und noch heute kommt mir immer nur eine Frage in den Sinn, wenn ich an Kunst und ihre Bedeutung denke: Was ist ein künstlerischer Kuss? Erst Jahre später wurde mir klar, dass für meine Mutter die Kunst im Film begann – nämlich dort, wo das wirkliche Leben endet. Und der künstlerische Kuss kam ihr so verfremdend und übertreibend vor, dass er nur in Filmen in Erscheinung treten kann. Von dieser Entdeckung an spielte die „Wirklichkeit“ und ihr Verhältnis zur „Kunst“ sowohl in meiner Studienzeit im Iran und in Deutschland als auch bei meiner Tätigkeit als freischaffender Künstler eine wichtige Rolle. Das lebendige „Ich“ in unterschiedlichen Wirklichkeiten und die „Wirklichkeiten“, die in mir gelebt haben, können mein künstlerisches Schaffen beeinflussen und als Inspirationsquellen dienen. Aber was genau ist die „Wirklichkeit“ und wo ist ihre Grenze zur „Kunst“?

In seinem Buch „Poetik“ schreibt Aristoteles: „Es verdient also […] das Unmögliche, das wahrscheinlich ist, den Vorzug vor dem Möglichen, das nicht glaubhaft ist.“ Aristoteles sieht die Mission des Gedichts darin, auch aus Unmöglichem eine wahrscheinliche Wirklichkeit zu erzeugen. Während der „künstlerische“ Kuss für meine Mutter nur in der künstlichen Wirklichkeit eines Filmes denkbar war, ist diese Art Kuss in der täglichen Realität vieler anderer Menschen stets vorhanden. Die Biografie eines jeden Menschen ist voller Ereignisse, die unwirklich oder unmöglich erscheinen: Ereignisse, an deren Existenz wir kaum glauben wollen, auch wenn wir uns daran erinnern können, dass diese in unserem Leben tatsächlich geschehen sind. Solche Ereignisse müssen aber nicht unbedingt in der Vergangenheit geschehen sein, wo der Schatten der Zeit einen Schleier darüber legen und sie damit von unserem Wahr-Nehmen fernhalten kann. An dem Tag, an dem Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde, war es wohl für mindestens die Hälfte der Welt schwer zu begreifen, dass dies tatsächlich geschieht. Ein Politikwissenschaftler hingegen kann anhand von Zahlen und Diagrammen die Bewegung der US-amerikanischen Gesellschaft bis hin zu einer solchen Realität als „wahrscheinlich“ rekonstruieren. Was passiert aber, wenn solche „unmöglichen“ Ereignisse unseres Lebens in den Bereich der Literatur und Kunst eintreten? Wie und wann kann Kunst solche Ereignisse in einer Konstruktion wirklich und glaubhaft machen? Was für eine künstlerische Haltung wählen Künstler*innen, wenn sie eine Brücke zwischen der unmöglichen Wirklichkeit und einer künstlerischen Übersetzung und Umsetzung derselben schlagen wollen: eine affirmative, eine kritische oder eine transformative Haltung?

In den Jahren des stalinistischen Terrors verbrachte die Dichterin Anna Achmatowa sehr viel Zeit in den Warteschlangen der Gefängnisse, um ihren inhaftierten Sohn zu besuchen. Sie berichtet: „Auf irgendeine Weise ‚erkannte‘ mich einmal jemand. Da erwachte die hinter mir stehende Frau mit blauen Lippen, die meinen Namen natürlich nie gehört hatte, aus jener Erstarrung, die uns allen eigen war, und flüsterte mir ins Ohr die Frage (dort sprachen alle im Flüsterton): ‚Und Sie können dies beschreiben?‘ Und ich sagte: ‚Ja.‘ Da glitt etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war.“ Nach jenem unausgesprochenen und unbenannten „dies“ fragt die Journalistin Carolin Emcke in ihrem Buch „Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit“: „Genauer: Was ist an diesem ‚dies‘, das es zu einem sprachlichen Problem macht? Was daran ist unsäglich? Warum braucht die Frau ‚mit blauen Lippen‘ eine andere, eine Fremde? Warum kann sie ihre Erlebnisse im Gefängnis nicht selbst beschreiben – so wie sie vermutlich den Besuch der Nachbarin, den ersten Schultag ihres Kindes oder das Einholen der letzten Ernte in Worte fassen kann?“ „Dies“ bezieht sich meiner Auffassung nach gerade auf solche Tatsachen, die unmöglich und unglaublich erscheinen. Um sie zu „beschreiben“, bedarf es einer poetischen Sprache – nämlich jener Anna Achmatowas, welche die Frau „mit blauen Lippen“ durchweg für fähig hält, dieses „dies“ glaubhaft in die Kunst übertragen zu können.

Was ist „Wirklichkeit“? Wo fängt sie an und wo hört sie auf? Welche Rolle spielt sie in der Kunst unserer Zeit – und wo ist die Grenze zwischen Wirklichkeit und Kunst? Kunst konfrontiert sich in unterschiedlichem Maße mit der Wirklichkeit – und umgekehrt. Stets aber findet ein Austausch zwischen beiden Bereichen statt: Sie durchdringen und beeinflussen einander. Statt der Frage „Was ist Kunst?“ können wir uns auch die modifizierte Frage des US-amerikanischen Philosophen Nelson Goodman stellen, nämlich: „Wann ist Kunst?“ Aber kann diese Frage uns bei der Feststellung der Grenze zwischen „Wirklichkeit“ und „Kunst“ helfen? Hört das eine auf, wenn das andere beginnt? Wie kann die „unmögliche Wirklichkeit“ einer Person zu einer möglichen Realität für Andere werden? Für die in künstlerischen und akademischen Kreisen diskutierten Positionen von „Kunst und Gesellschaft“, „Kunst im Kontext“ oder „Kunst und Politik“ nimmt die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit eine Schlüsselrolle ein. Die mit ihr einhergehenden Suchbewegungen sind zugleich Fragen, die in meiner beruflichen Tätigkeit als Künstler von zentraler Bedeutung sind – sei es bei der Themenwahl, im Arbeitsprozess oder bei der Auseinandersetzung mit den Arbeiten anderer Künstler*innen.

Saeed Foroghi